Warum „Achtsamkeit to go“ nicht funktioniert & was dir stattdessen wirklich hilft
„Ich will, dass es mir schnell besser geht.“
Es gibt diese Tage, an denen alles zu viel wird. Du sitzt am Küchentisch, das Handy blinkt, schon wieder eine neue Nachricht. “Hoffentlich nicht noch etwas was ich noch erledigen muss”, denkst du vielleicht. Der Rücken meldet sich und du wünschst dir einfach nur, dass das Karussell für einen Moment anhält, in dem du sitzt. Am liebsten jetzt sofort.
Vielleicht denkst du, noch eine Achtsamkeitsübung schaffe ich nicht, noch eine To do Liste will ich nicht. Und ehrlich gesagt möchtest du auch nicht genau hinsehen, warum der Schlaf schon wieder schlecht war oder die Schultern hart wie Stein sind.
Das ist menschlich. Denn wer möchte schon freiwillig merken, dass der Rücken wegen Daueranspannung meckert oder der Schlaf ausgerechnet dann streikt, wenn man ihn am dringendsten braucht?
Dein System versucht dich in solchen Momenten zu schützen, indem es sagt, bitte nichts Zusätzliches mehr.
Warum Achtsamkeit to go nicht funktioniert
Ich sage es dir direkt: Achtsamkeit als Schnelltrick funktioniert selten. Nicht, weil dir die Disziplin fehlt, sondern weil dein Körper und dein Nervensystem Zeit brauchen, um zu spüren, dass es gerade sicher genug ist. In Stresszeiten schaltest du auf Alarm, dein Atem wird flacher, die Muskeln spannen sich an, die Gedanken laufen schneller. Dein Körper ist quasi im “Überlebensmodus”. Er funktioniert. Für einen Moment hilft es, alles zu überdecken.
Auf Dauer zahlst du aber einen Preis dafür. Dein Körper wird sich irgendwann melden. Vielleicht erst leise und dann immer lauter. Bis du nicht mehr wegschauen kannst.
Stabiler oder gesünder wird es, wenn du dir kleine, echte Inseln in deinem Alltag schaffst, in denen dein System merkt, hier ist ein bisschen Raum. Hier kann ich auftanken und zur Ruhe kommen.
Sanft hinschauen statt überfordern
Viele haben Angst, dass das Hinschauen, sie plötzlich überflutet. Das verstehe ich sehr gut. Darum ist das Wie so wichtig. Hinschauen heißt für mich im Alltag:
Kontakt: Hand auf Brust oder Bauch, drei ruhigere Atemzüge. Der Fokus richtet sich von den Gedanken auf den Körper.
Benennen: „Gerade belastet mich X und Y.“ Keine Analyse, kein Urteil nur hinspüren.
Ein Mini-Schritt: Eine kleine Sache, die heute 1–5 Minuten gut tut (Fenster öffnen und durchatmen, Schultern lockern, 10 Handy-freie Minuten vor dem Schlafen, freundlich „Nein“ zu einer Zusatzaufgabe).
So entsteht plötzlich ein Handlungsspielraum. Wir müssen nicht einfach immer so weitermachen wie bisher, sondern wir merken: “Ah ich kann aus dem automatischen Kreislauf aussteigen: spüren – benennen – handeln. Ein Mikro-Moment, den du immer wieder wiederholen kannst. Und Wiederholung ist das, was deinem Nervensystem Sicherheit gibt. Und wenn dein Nervensystem in Sicherheit ist, (gut reguliert ist) muss dein Körper auch nicht mehr ständig starke Signale wie Nackenschmerzen senden, damit du zuhörst.
Das „Tal der Klarheit“. Eine Phase, die viele kennen
Eine Teilnehmerin aus meinem Präventionskurs ACHTSAM LEBEN sagte einmal sinngemäß:
„Judith, durch deinen Kurs merke ich erst, wie gestresst ich bin. Vor allem auf der Arbeit. Das fühlt sich nicht gut an. Manchmal wünsche ich mir, es wäre wieder wie vorher.“
Ich verstehe diesen Wunsch sehr gut. Der Zustand vorher war vertraut, auch wenn es anstrengend war. Ich nenne diese Phase das Tal der Klarheit. Der Nebel geht weg, und plötzlich siehst du, was dich (vielleicht schon lange) belastet. Nicht, weil etwas „schlechter“ wird, sondern weil ein Bewusstsein dafür entsteht, was gerade alles da ist. Viele erleben hier Traurigkeit oder Ärger: Trauer darüber, wie viel du geschultert hast; Ärger, dass Grenzen überschritten wurden, vielleicht auch die eigenen.
Die gute Nachricht: Diese Phase ist vorübergehend. Wenn du freundlich mit dir bleibst, anstatt dich selbst zu kritisieren, kleine Schritte machst wird aus dieser Klarheit Orientierung. Aus Orientierung werden andere Entscheidungen im Alltag, die zu mehr Wohlbefinden führen. Schritt für Schritt. Nicht perfekt, aber spürbar.
„Keine Lust zu üben“, die ehrliche Seite von Erschöpfung
Der Satz von meiner Teilnehmerin ist übrigens gar nicht so selten. Er zeigt, wie erschöpft viele von uns im Moment sind.
Deshalb kopple die kleinen bewussten Momente des Innehaltens oder Spürens an etwas, das sowieso passiert wie: Zähneputzen, Kaffee kochen oder spülen.
Wie kleine Schritte tatsächlich etwas verändern
Unser Gehirn und unser Körper lernen durch Wiederholung in Sicherheit. Jeder kurze Moment, in dem du merkst, dass dein Atmen tiefer wird oder deine Schultern etwas sinken, ist wie ein Trampelpfad, der mit jedem Mal sichtbarer wird. Nach einigen Wochen hast du schneller Zugriff auf diese Ruheanker nicht, weil Probleme weg sind, sondern weil dein System einen Weg kennt, kurz zu regulieren. Das ist nachhaltiger als ein „Schnelltrick“, der nur Symptome “wegdrückt” oder betäubt.
Ein Beispieltag. So kann das im echten Leben aussehen
Morgens (1 Minute beim Zähneputzen): Wie fühlt sich die Zahnbürste im Mund an? Was hörst du? Was kannst du schmecken? Welche Gedanken sind gerade da? Du musst nichts „schaffen“. Nur hinspüren.
Mittags (30 Sekunden vor einer Mail): Schultern bewusst sinken lassen, ausatmen bis 6 zählen, Pause, einatmen bis 4. Dreimal. Dann erst schreibst du deine Mail oder widmest dich der nächsten Aufgabe.
Nachmittags (2 Minuten zwischen Terminen): Kurz ans Fenster, Blick in die Weite schweifen lassen, Nacken sanft dehnen, zwei tiefe Ausatmer.
Abends (10 Minuten „Landing“): Licht dimmen, Handy außer Reichweite, Kiefer – Nacken – Bauch lockern, mini Body-Scan von Kopf bis Fuß.
Vor dem Schlafen (60 Sekunden auf der Bettkante): „Was hat mir heute 1 % geholfen?“ Drei Stichworte. Fertig.
Das sind zusammen keine 15 Minuten und trotzdem mehrere echte Kontakte zu dir.
Zum Mitnehmen
Wir leben in einer Welt, in der es scheinbar alles “to go” gibt. Kaffee to go, Essen to go, Meditation to go. Schnell. Praktisch, unkompliziert.
Und genau so wünschen wir uns oft, dass auch unsere Erschöpfung einfach “to go” verschwindet. Einmal tief schlafen, eine Tablette, ein Wochenende und bitte sofort wieder funktionieren.
Du hast die Wahl. Du kannst weiter durchhalten, bis dein Körper dich stoppt oder du entscheidest dich, (vielleicht genau JETZT) liebevoll mit dir selbst zu sein. Denn Stärke entsteht ja nicht durch noch mehr Tempo, sondern durch Pausen, die dir Kraft schenken.
Und wenn du bis hierhin gelesen hast, dann kannst du auch noch einmal ein & ausatmen, bevor du gleich weitermachst.
Ich wünsche dir einen schönen Moment.
Schritt für Schritt
Deine Judith
P.S.: Am 10.11.2025 startet ein neuer Durchgang von Achtsam Leben, mein zertifizierter 8 Wochenkurs. Vielleicht ist das dein Moment, wieder mit deinem Körper zu gehen, statt gegen ihn?
Du möchtest noch mehr Infos? Dann hier entlang.